von Andreas Ziörjen
Vor etwa zehn Jahren fuhr ich auf einem Containerfrachter mit über den Atlantik. Da es auf der zwölf Tage dauernden Überfahrt als Passagier nicht viel zu tun gab, beschäftigte ich mich vor allem mit
der vorhandenen Tierwelt und den schier unendlich scheinenden Kombinationen von Wolken- und Wellenformen. Besonders die Vögel hatten es mir angetan. Als einmal ein besonders grosses Exemplar
vorbeiflog, das für mich nach einem Albatros aussah, fragte ich einen Offizier danach. "Für mich sind das alles Möwen" sagte er und wandte sich schulterzuckend ab. "Eigentlich hat er recht", dachte
ich bei mir. Warum müssen wir alles benennen können? Kleine Möwen, grosse Möwen. Schwarze Möwen, weisse Möwen. Egal. Der Albatros interessiert sich wahrscheinlich auch nicht wirklich dafür, ob er nun
Albatros oder grosse Möwe heisst.
Wir Menschen schubladisieren gerne. Weitverbreitetes Hobby. Alles wird fein säuberlich etikettiert und in unserem Speicher abgelegt. Gut. Schlecht. Angenehm. Unangenehm. Richtig. Falsch. Dieses
Konzept. Jenes Konzept. Und so weiter. Je mehr Erinnerungen in den Schubladen drin sind, desto schneller wird unser Gehirn darin, neue Erfahrungen in die Schubladen zu stecken. Oder wie der grosse
Weise Anthony de Mello sagte: sobald du das Kind den Namen des Vogels lehrst, wird es aufhören, den Vogel zu sehen.
Was hat das nun mit Asana zu tun, den Körperstellungen des Hatha Yoga? Von den Hochglanzmagazinen im Kioskregal lächeln uns äusserst bewegliche Menschen in artistisch recht anspruchsvollen Posen
entgegen. In meiner ersten Yogaausbildung beschäftigten wir uns mit fünfzig "klassischen" Asana. Es gibt Hunderte von Büchern mit allen erdenklichen Yogahaltungen und -sequenzen mit allen möglichen
und unmöglichen Zielen. Von wohlgeformten Gesässmuskeln bis zur Erleuchtung. Myriaden von Asana. Inzwischen bin ich mir sicher, dass es nur ein einziges gibt. Ein Asana. Das Asana. Das Ei des
Kolumbus sozusagen.
Und jetzt hätten Sie wohl gerne, dass ich ihnen das verrate, oder? Schrauben Sie Ihre Erwartungen aber nicht zu hoch. Eigentlich ist es ganz einfach. Die Lösung hat uns der philosophische
Übervater der Yogatradition schon vor rund zweitausend Jahren geliefert. Patanjali schreibt in den Yoga-Sutras: "sthira-sukham-asanam." Die Haltung soll fest und angenehm sein. So können wir es
also auch sehen. Ein Asana im Sinn des Yoga ist keine bestimmte Körperhaltung, die man abfotografieren kann und dann möglichst präzise imitiert. Sondern eine innerliche Qualität, die
in jeder äusseren Haltung vorhanden sein kann und die die Art unserer Verbundenheit zu unserem Kern reflektiert. Deshalb gibt es eigentlich nur ein Asana. Nämlich das, das Ihrer momentanen
Haltung entspricht und diese beiden Qualitäten - Stabilität und Leichtigkeit - aufweist.
Dass es nur ein Asana gibt, bedeutet aber auch, dass es eigentlich unendlich viele gibt. Denn alles ist im Fluss. Kein Mensch ist genau gleich wie der andere. Und auch wir selbst sind heute nie ganz
genau dieselben wie gestern, in zehn Sekunden nicht mehr genau dieselben wie genau jetzt. Unser einziges Asana muss mit dieser Entwicklung mitfliessen.
Sollen wir also aufhören, fixe Stellungen einzuüben, Yogastunden mit anspruchsvollen Sequenzen zu besuchen? Jein. Denn die definierten Asana geben uns Hinweise und eine Struktur, auf der unser
einziges Asana wachsen und gedeihen kann. Problematisch wird es erst dann, wenn wir glauben, uns einem Idealbild anpassen zu müssen und darüber vergessen, nach innen zu lauschen. Immer und zuerst
nach innen. Denn unser Körper kann uns führen, wenn wir ihn nur lassen und den Griff unseres konzeptionellen Geistes etwas lockern. Dann müssen wir auch kein Buch mehr lesen, um ein Asana zu
finden, das uns in einem bestimmten Bereich hilft. Es entsteht ganz natürlich von innen.
Wie können wir das erreichen? In der Kampfkunst hatten wir eine Redensart: um die Technik loslassen zu können, müssen wir sie zuerst beherrschen, wirklich integriert haben. Also üben Sie ruhig
klassische Yoga-Asana. Aber denken sie auch immer daran, sie auch wieder loszulassen und sie sich ihnen zu eigen zu machen. Mit grosser Achtsamkeit und Liebe für sich selbst Ihrem Körper anzupassen.
Und zwischendurch auch mal den Körper auch vollständig das tun lassen, was sich jetzt gerade richtig anfühlt. In ganz kleinen, langsamen Bewegungen. Im kaschmirischen Yoga wird dies Tandava
genannt.
Suchen Sie sich einen ruhigen Platz. Vielleicht legen Sie Musik auf, anfangs ohne zuviel Rhythmus. Stellen oder setzen Sie sich hin. Schliessen Sie die Augen. Nehmen Sie Bewegungsimpulse wahr,
ohne ihnen sofort zu folgen. Und dann lassen Sie sich bewegen. Ganz, ganz langsam. Ohne an richtig und falsch zu denken. Die kleinsten, feinsten Signale des Körpers wahrnehmen und ihnen folgen.
Probieren Sie es aus. Und beobachten Sie, was es mit Ihnen macht.
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Eva (Sonntag, 27 März 2016 17:43)
Dieser Beitrag hat mich gerade sehr berührt! Danke dir! Für mich ist das total stimmig, wie du diese EINE asana, welches gleichzeitig immer wieder anders ist und auch alle asana meint, beschrieben hast. Die Haltung, zuerst im Aussen dann immer mehr im Innen - stabil, fest, klar und gleichzeitig leicht und bequem, ja das ist Yoga:-).
Hans (Donnerstag, 20 August 2020 15:24)
Wenn ich das richtig verstehe, wird mit einem Asana, einer Yoga-Stellung (Uebung, Haltung, Figur oder wie auch immer) eine innere Haltung ausgedrückt. Dann sind also die Haltungen eigentlich Ausdrücke des Innern und die Yoga-Übungen nur Beispiele, wie man sein Ich (?) in der Haltung ausdrücken könnte. Wenn das so richtig ist, habe ich gerade eine "Erleuchtung" gehabt, was Yoga ist oder sein könnte. Danke Andreas!