von Andreas Ziörjen
Wenn wir mit Hatha Yoga beginnen, haben wir oft eine klare Vorstellung von dem, was wir erreichen möchten. Entspannung, Verbesserung der Dehnbarkeit, Fitness, mehr Ruhe und Präsenz im Moment, Umgang
mit Emotionen - you name it. Vielleicht gar abstraktere Ziele wie das interessante Konzept "Erleuchtung"? Auf der Ebene unseres konzeptionellen Denkens - im Yoga manas genannt - können wir
wohl gar nichts tun, nichts entscheiden, ohne dabei irgendein Ziel zu verfolgen. Auf einer anderen Ebene hingegen - ich nenne sie hier mal die Ebene des Dao, des Weges - geschieht alles spontan,
sozusagen um des Tuns selbst Willen. Damit wir uns richtig verstehen: es geht hierbei um ein und dieselbe Handlung, nur um verschiedene Betrachtungsebenen derselben. Das Dao interessiert sich nicht
für die begrenzten Ziele des Egos. Es sucht den Ausgleich der Energien im Kosmos und handelt dafür durch uns "hindurch".
Manchmal wird uns das besonders bewusst. Nämlich dann, wenn wir etwas tun, weil es sich einfach richtig anfühlt, ohne zu wissen warum. Mir ging das zum Beispiel so mit der Entscheidung,
Yogalehrer zu werden. An einem Donnerstag im Büro tippte ich aus einem Impuls heraus "Yogalehrerausbildung" bei Google ein. Eine Stunde später war ich angemeldet, und am Samstag darauf begann der
Kurs. Irgendwann schaltete sich dann der Kopf noch ein und suchte sich ein paar passende Gründe für den Entscheid zusammen. Ich hatte mir zuvor trotz zwölf Jahren Hatha Yogapraxis nie auch nur
überlegt, so etwas zu tun. Als Ingenieur war ich mir immer gewohnt, auch im privaten Bereich vor jedem Entscheid alle Argumente sorgfältig zusammenzutragen, zu analysieren, zu bewerten. Ich war
also von dem Vorgang gebührend fasziniert. Hatte ich etwas gesucht? Zumindest nicht bewusst. Habe ich etwas entdeckt? Eine neue Welt.
Vielerorts werden Praktizierende der spirituellen Wege als "Suchende" bezeichnet. Das kam mir schon immer etwas seltsam vor. Müssen wir wirklich suchen, um etwas zu finden? Limitiert uns
nicht eventuell die Suche nach etwas Konkretem auf genau das? Und was noch dazukommt, finden wir nicht oft lange verloren geglaubte Dinge erst dann, wenn wir aufhören, krampfhaft danach
zu suchen?
In einer der ersten Ausgaben dieses Blogs schrieb ich über die Bedeutung der Motivation für die Meditationspraxis.
Suchen oder Entdecken, das ist hier die Frage..
Darin schlug ich vor, unsere innersten Beweggründe bereits beim Beginn jeder Art von körperlichen und spirituellen Praktiken sehr aufmerksam zu beobachten und auch deren stetige Entwicklung nicht
außer Acht zu lassen. Wie so oft auf dem tantrischen Weg des Hatha Yoga ist das jedoch nur eine Seite der Medaille. Denn irgendwann müssen wir uns fallenlassen. In den Weg hinein sozusagen. In ein
āsana, eine Körperhaltung hinein. In uns selbst hinein. Uns erlaubend, ohne Konzept, ohne Struktur, ohne richtig oder falsch einfach zu SEIN. Nicht zu suchen, sondern zu entdecken - was auch
immer da sein mag.
Wie man über die Form hinausgeht und sie dabei gewinnt anstatt verliert
Letztes Wochenende besuchte ich ein wundervolles Seminar bei Daniel Odier, dem bekannten Autor und Lehrer für shivaitischen Tantra. Ein wichtiges Element dieses Wegs ist tandava, sehr langsame
und meditative freie Bewegung. In diesen Übungen erhält man eine kleine Ahnung davon, wie die Strukturen und Konzepte, die dem Hatha Yoga, dem Qi Gong und vielen weiteren körperorientierten Techniken
entstanden sein können. Im Hatha Yoga geht man sozusagen durch die Verschmelzung mit der Struktur, dem Konzept ins Konzeptlose hinein - im tandava hört man einfach dem Körper und seinen aktuellen
Bedürfnissen sehr aufmerksam zu und geht da immer tiefer hinein. Daraus können Strukturen entstehen. Daraus wird aber auch klar, dass wir solche Strukturen jeden Tag neu auf unseren Körper und unser
Befinden anpassen müssen. Denn unser Körper ist nicht derjenige der Menschen, die diese lang erprobten Techniken geschaffen und verfeinert haben. Und wir sind heute nicht mehr genau dieselben wie
gestern. Vielleicht waren wir wandern und haben Muskelkater. Vielleicht freuen wir uns besonders oder sind niedergeschlagen. Vielleicht spüren wir Alterserscheinungen.
An all dies muss sich unsere Körperpraxis ständig und flexibel anpassen. Ein guter Lehrer kann helfen. Aber die Verantwortung kann nur bei uns liegen. Zu entdecken was da ist und uns
darauf einzustellen. Ohne uns daran festzuhalten, was wir denken, dass da sein sollte. Christoph Kolumbus fand nie heraus, dass er Amerika "entdeckte". Denn er interpretierte alles, was er
sah, aus der Annahme heraus, in Asien zu sein. Machen wir nicht denselben Fehler. Entdecken braucht nach dem ersten Schritt eine Offenheit, die nur mit dem zumindest zeitweisen Verzicht auf die
Suche erreicht werden kann.
Entdecken braucht innere und äußere Flexibilität
Was heißt das nun für unsere Yoga- oder Qi Gong-Praxis? Oder für unser Alltagsleben?
- Lass dir genügend Zeit. Lieber weniger Unterschiedliches, dafür langsamer üben.
- Lerne die Form, aber lass deinen Körper davon abweichen, wenn es sich richtig anfühlt.
- Bleibe dabei stets achtsam und beobachte, ob dies aus Bequemlichkeit geschieht oder wirklich gut tut. Oft muss man eine Technik zunächst wirklich integriert haben, bevor man sie mit gutem
Effekt auflösen kann.
- Hinterfrage alles, auch dich selbst.
- Respektiere alles, was auf dich zu kommt - von dir selbst wie von anderen - als eine
Gelegenheit zum Lernen.
- Kultiviere Dankbarkeit und liebe dich selbst in allen deinen Ausdrucksformen.
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