von Andreas Ziörjen
Labyrinthe, Spiegelsäle, Rätsel - einerseits Unterhaltung, aber noch viel mehr. Vor etwa 15 Jahren besuchte ich Chartres, eine kleine Stadt in der Nähe von Paris. Natürlich hatte ich schon von ihrer berühmten Kathedrale mit dem ebenso berühmten, in den Boden eingelassenen Labyrinth gehört. Damals wurde mir erstmals wirklich bewusst, dass es zwei Arten von Labyrinthen gibt: Solche mit Sackgassen - Irrgärten - und solche, die zwar auf verschlungenen Pfaden, aber doch verzweigungsfrei und sicher zum Ziel führen. Das Labyrinth von Chartres gehört zu den letzteren. Damals konnte man es gerade nicht begehen, weil es für eine Veranstaltung mit Stühlen besetzt war.
Heute ist es mir eine Freude, jedes Labyrinth zu durchwandern, dem ich begegne. Mein persönlicher Favorit ist dasjenige im Garten des "aki" in Bern, wenn im Frühling die Primeln spriessen und wir in der Qi-Gong-Gruppe gemeinsam meditatives Gehen üben.
Ich würde mich selbst als eine Entdeckernatur bezeichnen. "Finden ist seliger als suchen", frei interpretiert nach einem bekannten Sprichwort. Insofern kümmert es mich meist wenig, ob sich mir das Leben jeweils gerade als Labyrinth der einen oder der anderen Form offenbart.
Hauptsache, es ist nicht der gerade Weg. Nicht dass ich glauben würde, dass dein oder mein Da-Sein sich jemals auf eine gerade, überblickbare Autobahn reduzieren liesse, und das ist gut so. Auch das Auskundschaften von Sackgassen kann uns Dinge zeigen, die wir vielleicht auf der Hauptstrasse nie erlebt hätten.
Dennoch komme ich für mich immer mehr zum Schluss, dass das Modell, in dem wir unser Leben sehen, nur von der Betrachtungsebene abhängt. Auf der Ebene unseres Egos stehen wir vielleicht gerade in einer Sackgasse, und das ist uns nicht gerade angenehm, weil wir glauben, zu einem bestimmten Zeitpunkt irgendwo anders sein zu müssen, als wir jetzt sind.
Wenn wir dann unseren Horizont etwas mehr öffnen, zum Beispiel durch Meditation, können wir erkennen, dass wir uns von einer höheren Ebene aus gesehen eher in einem Labyrinth wie dem von Chartres befinden - die scheinbare Sackgasse ist einfach eine Windung in unserem verzweigungsfreien Weg, die uns nur vordergründig zum Ausgangspunkt zurückführt. Eigentlich ist sie lediglich ein Teil des kontinuierlichen Wegs zur Mitte hin, von dem wir nicht abweichen können, selbst wenn uns das so scheint.
Und gibt es dann vielleicht noch eine andere Ebene, auf der der scheinbar verschlungene, aber verzweigungsfreie Weg ganz gerade wird? Und eine noch weitere, auf der der Weg zum Punkt wird, alle Stationen und Ausblicke darin gleichzeitig und sich gegenseitig durchdringen? Können wir dies erfahren? Vielleicht. Sicher hilft uns das Bewusstsein dieser verschiedenen Labyrinthe aber, in scheinbaren Sackgassen unseres Lebens den Mut nicht zu verlieren, sondern immer wieder aufzustehen.
Mein langjähriger Kampfkunstlehrer hatte von seinem japanischen Meister eine Kalligraphie erhalten, die in unserem Dojo hing:
"Sieben Mal hinfallen, acht Mal aufstehen."
Ich denke, genau das fällt uns etwas leichter, wenn wir uns bewusst machen können, dass der Weg immer "vorwärts" geht, niemals zurück.
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