Kürzlich durfte ich mich ein Wochenende lang mit Grundtechniken des äusseren Qigong beschäftigen. Wie auch in den ostasiatischen Kampfkünsten ging es dabei zuallererst und immer wieder um "Erdung" - die Verbindung zu diesem grossen Ding, das sozusagen unten an unseren Füssen klebt (um die Sichtweise einmal umzukehren).
Dabei ist mir wieder einmal aufgefallen, dass wir uns im Yoga zwar immer sehr aufmerksam damit beschäftigen, wie wir stehen, wir uns bisweilen aber recht selten explizit bewusst machen, auf wem wir hier eigentlich stehen. Oder sitzen. Oder liegen. Oder kopfstehen natürlich, wems gefällt :-)
In der Asanapraxis des Hatha Yoga beschäftigen wir uns zumeist vor allem in denjenigen Stellungen intensiv mit der Erdung und Verwurzelung, in denen sie eben gerade nicht so selbstverständlich und einfach zu erreichen ist. Zum Beispiel in der Baumhaltung, Standhaltungen, oder auch in Meditationshaltungen, wo die Möglichkeit, die Basis zu verlieren, mehr psychologischer als physischer Natur ist. Hingegen bietet uns Hatha Yoga auch viele ganz selbstverständlich anmutende Möglichkeiten, mit "Mutter Erde" wieder intensiver in Kontakt zu treten. Alle Haltungen, bei denen wir grossflächigen Bodenkontakt haben, wie zum Beispiel die am Ende jeder Stunde praktizierte "Totenstellung" Shavasana, ermöglichen es uns, einen Perspektivenwechsel in Bezug auf unseren, vom Boden normalerweise ja weit entfernten westlichen Alltag vorzunehmen. Doch dazu später mehr.
Zunächst eine kleine schulische Repetition: Die Erde ist der fünftgrösste der acht Planeten im Sonnensystem. Sie bewegt sich mit einer Bahngeschwindigkeit von rund 10'000 km/h (!) um die Sonne herum. Dabei dreht sie sich (am Äquator gemessen) mit ca. 1700 km/h um sich selbst. Eine ziemlich dynamische Sache eigentlich..
Für uns im Vergleich winzige, diesen rasenden Felsball bevölkernde Lebewesen hingegen ist sie ein Ruhepol und Energielieferant. Erde ist eines der fünf grobstofflichen Elemente der indischen Samkhya-Philosophie (Erde, Wasser, Feuer, Wind, Raum), die diese übrigens auch mit den alten Griechen gemein hat. Dabei steht sie für Stabilität, Zentrierung, Ausgeglichenheit und Stärke. Energetisch wird sie dem Wurzelchakra im Bereich des Perineums und allgemeiner den ganzen Beinen und Füssen zugeordnet.
In Bezug auf unsere Sinneswahrnehmungen wird die Erde mit den Gerüchen verknüpft. Auf der psychischen Ebene verwenden wir das Element Erde, um Gelassenheit, Vertrauen und Geborgenheit zu entwickeln. In Indien wird als Symbol für die Erde ein gelbes Quadrat (!) verwendet, dass die Unverrückbarkeit und Schwere dieses Elements ausdrücken soll. Schwer - ja - aber: die Erde nährt uns. Sie repräsentiert auch das Weibliche Prinzip, das Schaffende, nicht das Strukturierte sondern die urtümliche, gebärende Kraft.
In der traditionellen chinesischen Medizin spricht man bekanntlich von 5 leicht anderen Elementen (Erde, Metall, Wasser, Holz, Feuer), die für energetische Zustände stehen. Aktuell werden diese jeweils meistens in einem Kreislauf gezeigt. In älteren Darstellungen steht Erde jedoch zumeist in der Mitte, als Ruhepol zwischen den auf- und absteigenden, sich ausdehnenden und zusammenziehenden Energieformen.
Warum ist es in der Yogapraxis so wichtig, immer wieder bewusst zum Boden zurückzukommen? Die Beantwortung dieser Frage liegt sicher auch darin, uns in unserer Umgebung wahrzunehmen. Im Gegensatz zu Ländern wie zum Beispiel Japan verbringen viele von uns im Alltag sehr wenig Zeit am Boden, geschweige denn auf der Erde. Wir liegen im Bett, gehen, sitzen auf Stühlen, Bänken, in Verkehrsmitteln ... Nur unsere Füsse berühren den Boden direkt, meist wohlgepolstert durch ein Paar "Nike Air" oder so .. Vielleicht legen wir uns im nahenden Sommer einmal im Freibad auch mal auf die Wiese, aber das wars dann auch schon. Es kann eine sehr befreiende Erfahrung sein, so etwas Einfaches wie Bodenkontakt wieder intensiv zu spüren.
Ich erinnere mich an meine ersten Kampfkunsttrainings, wo der Bodenkontakt ja zuweilen nochmals etwas anders, durchaus auch heftig hergestellt wird ;-) Für mich war das damals schon fast eine mystische Erfahrung, eine Möglichkeit den Körper in einer neuen Weise zu erfahren. Genau dasselbe versuchen wir im Yoga zu tun. Gleichgewicht ist hier das Schlüsselthema. Nur aus der Erdung heraus kann der Baum in Richtung Himmel wachsen, aber der Wachstumsimpuls bewegt sich gegen die Schwerkraft und hin zur Sonne, repräsentiert einen bewussten oder unbewussten Entscheid, uns zu bewegen. Genauso wie der Baum brauchen wir das Sonnenlicht, die aktiven, aufstrebenden Stellungen. Genauso aber auch die tief und immer tiefer reichenden Wurzeln, die dem über der Erdoberfläche liegenden Gewächs Halt und Stabilität geben.
Stärkend für unser Erdelement wirken zum Beispiel stabile und entspannte Sitzhaltungen, Dehnungen der Fussgelenke, Liegen auf dem Bauch. Ebenfalls hilft es, mit unserer Aufmerksamkeit ganz bewusst die Kontaktflächen zum Boden zu "erfühlen" und die Dichtheit unseres Körpers zu spüren. Die Atmung sollte ruhig fliessen, und wir können uns sogar vorstellen, beim Einatmen über die Kontaktpunkte Energie aus dem Boden aufzunehmen und beim Ausatmen alles Schwere, Verbrauchte wieder in die Erde zum "Recycling" abzugeben. Ich praktiziere das auch gerne beim Joggen oder Gehen.
Psychologisch gesehen führt unser sehr mobiler, von vielfältigen Zerstreuungen geprägter Lebensstil natürlich auch eher dazu, dass wir "den Boden unter den Füssen verlieren". Erdung auf allen Ebenen ist die Voraussetzung dafür, dass wir wie im Yoga gewünscht immer mehr eins mit uns im gegenwärtigen Moment werden können. Aus der Erdung heraus kann die Aktivität wachsen, die ebenso Teil des Hatha Yoga ist, sein muss.
In der yogischen Meditation ist die Erdung ebenfalls ein zentrales Element, da wir uns dabei in stark von den oberen, eher "mental" oder spirituell orientierten Chakren hineinbegeben. Die Erde liefert dafür die Energie, verankert uns in der Realität und bewahrt uns davor, "abzuheben".
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