von Andreas Ziörjen
„O Shariputra, Form ist nicht verschieden von Leere, Leere ist nicht verschieden von Form. In der Tat: Form ist Leere, Leere ist Form. Das gleiche gilt für Empfindung, Wahrnehmung, Vorstellung und Bewusstsein."
Dies ist wohl der berühmteste Abschnitt des Prajnaparamita-Hridaya-Sutra, dem Herz-Sutra der transzendenten (oder genauer "am anderen Ufer angekommenen") Weisheit. Das Herz-Sutra ist einer der bekanntesten klassischen Quellentexte der ostasiatischen buddhistischen Traditionen. Zum Beispiel in Klöstern der Zen-Tradition, aber auch vieler anderer Richtungen, wird es täglich rezitiert. Extrem komprimiert enthält es eine der Kernlehren des Mahayana-Buddhismus, die Philosophie der Leere. Es ist, würde ich sagen, trotz der Kürze ein relativ „harter Brocken“. Trotzdem lohnt es sich, sich damit etwas näher zu befassen, allein schon weil es einem im Zen immer wieder begegnet.
Der Begriff der Leere ist ein tendenziell eher schwieriges philosophisches Thema für uns westlich denkende Menschen. Zu schnell kommen wir oft in Versuchung, das „Nichts“ als etwas Negatives, Lebensverneinendes zu sehen. Das Sanskritwort für Leere (Shunyata) heisst auch Null. Der buddhistische Gelehrte Garma Chang sagt dazu: „Null ist bestimmt kein Nichts im nihilistischen Sinn, sondern von wesentlicher Bedeutung für alle Manifestationen. In gleicher Weise bedeutet Shunyata kein blosses Nichts, sondern ‚von Leben vibrierende’ Leere; sie hat sowohl positive wie negative Züge.“
Das Herz-Sutra ist in seinem Hauptteil praktisch eine reine "Verneinungsorgie". Alles, bis hin zu den für den Buddhismus zentralen "4 edlen Wahrheiten" wird konsequent negiert. Damit bringt es uns zur Frage, die in der Meditation immer wieder als Kern auftaucht: Wenn alles, was wir für selbstverständlich annehmen, wegfällt, wie wäre das dann wohl? Was bleibt übrig? Wenn man die Texte der MystikerInnen liest - und das Herz-Sutra bildet da keine Ausnahme - ist die Antwort zumeist relativ ähnlich: Etwas, das sich nicht wirklich in Worten ausdrücken lässt. Auf einer etwas "seichteren" Ebene sagen sie uns aber: Was übrig bleibt, ist wahres Glück. Wie schon Anthony de Mello sagte: Um wahres Glück zu finden, müssen wir nichts hinzugewinnen - nur all das loslassen, was uns davon ablenkt. Das können wir zumindest ansatzweise auch ganz einfach empirisch nachprüfen: Schaut euch einmal jetzt, in diesem wundervollen, vor grüner und blumenprächtiger Opulenz überschäumenden Frühlingstagen eine Blume wirklich an. Wirklich! Ohne ihr einen Namen zu geben, ohne euch an euren Biologieunterricht zu erinnern oder euch vom Verkehrslärm nebenan ablenken zu lassen. Wenn es wirklich gelingt, ist das wahres Glück. Nicht mehr und nicht weniger.
Das Herz-Sutra sagt: "In der Leere gibt es keine Weisheit und nichts, das zu erlangen wäre. Da es nichts zu erlangen gibt, ist der Geist des Bodhisattva (hier: Meditierender zum Wohl aller Wesen), der in der Prajnaparamita verweilt, ohne Behinderung; da er ohne Behinderung ist, ist er ohne Furcht. "
In der Sanskritversion gibt es noch einen kurzen Vorspann resp. Nachspann zum Sutra, der in der chinesisch/japanischen Version (abgebildet) weggelassen wurde. Dort wird klar, dass es sich um einen Dialog zwischen dem Grossen Bodhisattva Avalokiteshvara und Shariputra, einem anderen Schüler des Buddha handelt, der auf dem Geierberg in Beisein des Buddha geschehen sein soll, wärend dieser in Meditation versunken ist.
Zeitlich ist das Sutra schwierig zu datieren. Der früheste heute noch existierende Text in Japan stammt ca. aus dem Jahr 600. Es wird auch zwischen Fachleuten diskutiert, ob der Urtext wirklich aus Indien stammt oder erst später aus dem Chinesischen ins Sanskrit „rückübersetzt“ wurde.
Einige eventuell hilfreiche Erläuterungen und Überlegungen zu einzelnen Begriffen und Aussagen:
Grundsätzlich wichtig ist die einleitende Aussage, dass die Leerheit der Phänomene nicht durch philosophische Betrachtung oder rationales Überlegen erkannt werden kann, sondern nur durch unmittelbare Einsicht. Das Sutra ist insofern ein begrifflicher Erläuterungsversuch einer intuitiven Erfahrung jenseits der Worte und Symbole. In den Upanischaden heisst es Neti Neti – nicht dies, nicht das!
Avalokiteshvara (chin. Guanyin, jap. Kannon, in Ostasien oft weiblich dargestellt): „Der die Töne/Stimmen der Welt hört“. Avalokiteshvara gilt als Verkörperung des Mitgefühls.
Bodhisattva: „Erleuchtungswesen“. Eigentlich einfach eine Person, die den Mahayana-Buddhismus praktiziert und insofern nach Erreichung der „Erleuchtung“ zum Wohle aller Lebewesen strebt. Oft aber eher für Heilige verwendet.
Die fünf Skandhas: Fünf „Gruppen“, die zusammen unsere „Persönlichkeit“ (D.T. Suzuki) konstituieren – Körperlichkeit, Empfindung, Wahrnehmung, psychische Formkräfte (wie z.B. das Denken) und Bewusstsein. Aufgrund dieser „Gruppen“ entsteht die Illusion der individuellen Wirklichkeit, die auch der Anhaftung als Grundursache allen Leidens zugrundeliegt.
Die Sinne und ihre Objekte: Ganz vereinfacht gesagt, es „gibt“ nichts, es gibt es aber auch nicht nicht! Es geht nicht um die Auslöschung von irgendetwas, sondern um das Erkennen der unserer sinnlichen Welt zugrundeliegenden unmittelbaren „Wahrheit“. Die Leere des Herzsutra ist somit eigentlich nicht ein Nichts, sondern etwas unglaublich Farbiges, Dynamisches, Präsentes.
Die Leere: Der Begriff der Leere ist sozusagen der „Finger, der auf den Mond zeigt“ – man sollte also nicht den Finger für den Mond halten. Leere ist hier nicht etwas Nihilistisches und auch nichts Relatives, sondern quasi die Essenz aller Dinge, etwas Absolutes und Transzendentes, das sich nicht in logische Kategorien fassen lässt. Form ist Leere und Leere ist Form zeigt auf die Realität jenseits der Begriffe.
Das Leiden: Im drittletzten Absatz geht der Verfasser auf die „Vier edlen Wahrheiten“ des Buddhismus ein und negiert sogar diese. Die „vier edlen Wahrheiten“ sind:
- 1. Alles Dasein (resp. primär die Haltung der Menschen dazu) ist letztlich leidvoll und unbefriedigend, respektive frustrierend
- 2. Alles Leiden entsteht aus dem Begehren (resp. der Anhaftung), Abneigung und Unwissenheit.
- 3. Das Leiden kann durch Beseitigung der (inneren) Ursachen aufgehoben werden.
- 4. Es gibt einen Weg zur Beseitigung der Ursachen des Leidens, nämlich den „Edlen achtfachen Pfad“
Dabei ist es wichtig zu wissen, dass das im Original verwendete „Dukkha“ in seiner Bedeutung eine relativ differenzierte Form von Leiden bezeichnet. Gemäss Michael von Brück ist Dukkha „die Frustration daran, dass die eigenen begrifflichen Projektionen nicht stimmen.“ Dieses ganze Spiel hat demzufolge in der Prajnaparamita keine Bedeutung, da es sozusagen auf dem Abkürzungsweg transzendiert wird. Wie am Anfang gesagt, geht es dabei gemäss dem Sutra nicht darum, etwas zu erreichen, sondern nur die in der eigentlichen Realität gegebenen Tatsachen zu erkennen.
Die Nicht-Behinderung: In der Leere hört alle „Reibung“, aller Widerstand auf zu existieren. D.h. auf den Menschen bezogen, Wollen, Fühlen, Handeln und Erfahren werden eins – wir befinden uns im Fluss des „Tao“. Wenn es keine Differenz mehr gibt zwischen „wie es sein sollte“ und „wie es ist“, hören auch Furcht und Leiden auf zu existieren, und zwar nicht an der Oberfläche, sondern in der Tiefe.. Ein weiteres schönes Bild ist die „Bewegungslosigkeit in der Bewegung“ respektive „Bewegungslos auf dem Esel reiten“. Das alles soll aber nicht heissen, uninteressiert zu werden oder keine Emotionen zu empfinden. Im Gegenteil. Auch Furcht darf z.B. da sein, sie wird einfach transzendiert. Also die ultimative Befreiung.
Das Prajnaparamita-Mantra:
Das Sutra schliesst mit dem Ausruf:
"Gate Gate Paragate Parasamgate Bodhi Svaha.“
Dieses Mantra (Werkzeug des Geistes) wird wie alle Mantras normalerweise nicht übersetzt sondern auch in Chinesisch/Japanisch in Lautschrift wiedergegeben. Wörtlich etwa: „Gegangen, Gegangen, darüber hinausgegangen, völlig darüber hinausgegangen (respektive: am anderen Ufer angekommen), erwacht, Segnung!“. Der Text gipfelt sozusagen in dieser mystischen Beschwörungsformel. Das ist insbesondere deshalb interessant, weil Zen sonst sehr wenig mit den aus den tantrischen Traditionen stammenden Mantras zu tun zu haben scheint. Suzuki sieht darin denn auch primär einen Ausdruck / Ausruf der plötzlichen Erleuchtung und weniger einen Auslöser.
Literaturtipps: (1) D.T. Suzuki – Prajna; (2) Garma C.C. Chang – Die buddhistische Lehre von der Ganzheit des Seins.
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